Im Kampf um die Zukunft Griechenlands und der Eurozone sind die Masken gefallen. Immer deutlicher zeichnen sich die hässlichen Konturen eines Europas ab, das seine demokratischen Hüllen abstreift. Die „Verhandlungen“ der letzten Wochen und Monate haben unmissverständlich gezeigt, wer im europäischen Haus das Sagen hat, wer die Bedingungen diktiert, wer der Souverän ist. Die Bevölkerungen Europas sind es nicht. Wenn Christine Lagarde, Mario Draghi und Jean-Claude Juncker einem Alexis Tsipras gegenüber stehen, dann ist der Grieche, wie die Journalistin Ulrike Herrmann kürzlich treffend bemerkte, mit drei Figuren konfrontiert, die keine oder nur eine äußerst klägliche demokratische Legitimation besitzen. Kein Bürger hat je eine IWF-Chefin, einen EZB-Präsidenten oder einen Kommissionspräsidenten gewählt. Und doch diktieren sie einer frisch gewählten Regierung die Wirtschaftspolitik, den Staatshaushalt, die Renten- und Gesundheitspolitik, die Innen- und Steuerpolitik, und zwar bis ins Detail. Sie entscheiden – oder glaubten bis vor wenigen Tagen entscheiden zu können –, dass profitable Flughäfen und Häfen privatisiert werden, dass die 50 Prozent der griechischen Rentner, die schon jetzt unterhalb der Armutsgrenze leben, noch weiter gedrückt werden, dass die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel weit über das durchschnittliche europäische Niveau steigen soll, obwohl schon heute immer mehr Kinder in Griechenland nicht ausreichend ernährt werden. Sie tun dies ohne auch nur einen Hauch von Legitimation außer der des Geldes. Wenn Du mir Geld schuldest, bist Du mir vollkommen ausgeliefert, lautet ihr Gesetz. Wer Schuldtitel in seinen Händen hält, hat die Macht über ganze Staaten, Regierungen und Bevölkerungen, ja sogar über Leben und Tod. Es ist eine perverse, abstoßende Ordnung.
Das Schauspiel wird aber noch grotesker und hässlicher, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass das Erpressungsspiel gegen Griechenland in vieler Hinsicht vollkommen irrational ist und nicht einmal den unmittelbaren Gläubigern dient. Nehmen wir die deutsche Regierung. Sie hat mit dafür gesorgt, dass die faulen Griechenlandkredite der Privatbanken seit 2010 Schritt für Schritt in EZB-Schulden, IWF-Schulden und Garantien des deutschen Staates überführt werden – also in öffentliche Schulden. Das war der Sinn der sogenannten „Rettungsschirme“, die nicht Griechenland sondern deutsche, französische und andere Banken retteten. Der deutsche Fiskus haftet inzwischen mit bis zu 84 Milliarden Euro für griechische Anleihen. Nun sollte man meinen, dass es das elementare, egoistische Interesse eines deutschen Finanzministers sei, dieses Geld zu schützen. Doch Wolfgang Schäuble hat in den letzten Jahren alles dafür getan, dass Griechenland durch abstruse Kürzungsprogramme in eine Situation getrieben wird, in der es definitiv seine Schulden nicht mehr bezahlen kann und in den endgültigen Bankrott rutscht. Seit Beginn der Austeritätsprogramme, die die Bundesregierung in der EU mit geradezu religiösem Eifer forciert hat, sind nicht nur Arbeitslosigkeit und Massenarmut in Griechenland explodiert, auch der Schuldenberg ist rasant gewachsen, von 120 Prozent des Bruttoinlandprodukts auf nunmehr über 180 Prozent.
Dass Austerität in einer Wirtschaftskrise nicht funktioniert und alles nur schlimmer macht, sollte jedem VWL-Studenten im ersten Semester klar sein, zumindest seit ein Reichskanzler Brüning Deutschland nach der Wirtschaftskrise 1929 damit in den Abgrund steuerte. Ist es möglich, dass einem deutschen Finanzminister, einer Bundeskanzlerin, einem Eurogruppenchef, einer IWF-Chefin und einem EZB-Präsidenten samt ihren Kollegen und Beratern diese einfache Wahrheit bisher verborgen geblieben ist? Gewiss: Die Physikerin Merkel und der Jurist Schäuble sind ökonomische Laien, sie können nicht einmal eine Volkswirtschaft von einem privaten Haushalt unterscheiden, wie ihr unsinniges Gerede vom Sich-Gesund-Sparen zeigt. Aber all die anderen? Ist so viel Unwissen möglich? Ist es wirklich nur Dummheit?
Im Falle des IWF ist die Antwort sehr klar: Nein, an Wissen fehlt es nicht. Die Ökonomen des Fonds haben über die letzten Jahre immer wieder Berichte veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass die Programme aus der neoliberalen Mottenkiste – Löhne drücken, Gewerkschaften schwächen, öffentliche Dienste schrumpfen, Steuern für die Reichen senken etc. – ökonomisch kontraproduktiv sind. Der letzte Bericht von diesem Typ erschien am 16. Juni.¹ Doch Christine Lagarde setzt sich über die Expertise im eigenen Haus systematisch hinweg und zwingt die Schuldnerländer mit genau den Rezepten, die ihre eigenen Fachleute für erledigt halten, in die Knie. Warum? Warum handelt der IWF gegen sein eigenes Wissen, die Bundesregierung gegen ihre eigenen finanziellen Interessen, die EZB gegen den Euro? Sind sie alle verrückt geworden?
Die Antwort ist, dass all diese Akteure gar nicht in erster Linie volkswirtschaftliche Ziele verfolgen, dass sie sich nicht für die Stabilität von Währungsräumen interessieren, sondern für etwas ganz anderes. Dieses Andere hat zwei Dimensionen: eine politische und eine ökonomische. Politisch geht es darum, jede Idee davon, dass es so etwas wie echte Demokratie in Europa geben könnte, im Keim zu ersticken. Deswegen muss Syriza zu Fall gebracht werden, selbst wenn der Euro auseinanderbricht und das europäische Einigungsprojekt scheitert, selbst wenn Deutschland auf Milliardenverlusten sitzen bleibt. Die ehemalige Bundespräsidentschaftskandidatin Gesine Schwan hat es klar benannt: Die Bundesregierung wolle die linke Regierung in Griechenland, koste es was es wolle, „gegen die Wand fahren“, um zu verhindern, dass sie in Europa Schule macht.² In eine ähnliche Richtung deutet auch der jüngste Report der US-Bank Goldman Sachs zu Griechenland, in dem es heißt, die gegenwärtige Krise sei ein notwendiger Durchgangspunkt für ein „re-alignment“ der griechischen Politik, sprich: für einen Regierungswechsel.³ (Wir erinnern uns: Goldman Sachs ist die Bank, die Griechenland einst dabei geholfen hat, seine Bilanzen zu fälschen, damit Goldman ungehindert weiter Kredite vergeben konnte.)
Dass die Zerstörung der gefährlichen Idee von Demokratie ein Ziel ist, zeigt allein schon die Tatsache, dass die Troika nicht einmal bereit ist, das laufende Kreditprogramm um eine Woche zu verlängern, bis die Griechen darüber entscheiden können, ob sie das Diktat annehmen oder nicht. Die Verlängerung hätte die Institutionen ein müdes Lächeln gekostet und den Bank Run in dieser Woche verhindert. Die Skrupellosigkeit, mit der die Verantwortlichen der EU die Zukunft Europas aufs Spiel setzen, um ein antidemokratisches Exempel zu statuieren, ist erschreckend. Sie erinnert an einige der dunkelsten Momente der europäischen Geschichte, etwa an den Juli 1914, als die österreichische K&K-Monarchie auf Druck der deutschen Regierung Serbien ein unannehmbares Ultimatum stellte und damit Europa in den Abgrund trieb.
Die zweite Säule des kalkulierten Wahnsinns ist ökonomischer Art. Den bestimmenden Akteuren geht es nicht um ein gesamteuropäisches volkswirtschaftliches Programm sondern um einen Mix von Partikularinteressen, die auch um den Preis eines allgemeinen wirtschaftlichen Ruins durchgesetzt werden. Den gemeinsamen Nenner dieser Interessen bildet das, was der britische Sozialwissenschaftler David Harvey einmal die „Ökonomie der Enteignung“ genannt hat: In der kriselnden Weltwirtschaft wird die Klassenmacht der ökonomischen Eliten – ihr Reichtum, ihre Privilegien, ihre politische Macht – nicht mehr in erster Linie durch den Kreislauf von Investition, Produktion, Verkauf, Profit und Reinvestition aufrecht erhalten, sondern durch Enteignung, durch Plünderung ganzer Volkswirtschaften. Die enormen Spekulationsgewinne in der Eurokrise waren nur möglich, weil die Kosten systematisch erst auf Staatshaushalte und dann auf die ärmsten Bevölkerungsteile abgewälzt wurden. Die Schocks der daraus resultierenden fiskalischen Krisen wiederum wurden effektiv genutzt, um die Filetstücke strauchelnder Volkswirtschaften zu Schnäppchenpreisen aufzukaufen. Das Ergebnis dieser modernen Raubökonomie aus staatlich subventionierter Spekulation, Erpressung und Zwangsprivatisierung ist zwar für eine relativ kleine Zahl von Anlegern sehr profitabel, für das Gesamtsystem aber fatal. Denn je erfolgreicher diese Einzelinteressen durchgesetzt werden, desto instabiler werden die Ökonomie und das politische System: Die Kaufkraft schwindet, wichtige Infrastrukturen zerfallen, Staaten werden in politische Wirren gestürzt, die Krise verstärkt sich, die Akteure werden noch rücksichtloser, um ihre Anteile an der Beute zu sichern, und so weiter.
Die postdemokratischen Souveräne in Brüssel und Berlin werden – wenn die Bürger sie nicht daran hindern – Europa ins wirtschaftliche Chaos und in die politische Spaltung treiben. Die neuen Nationalismen sind überall auf dem Vormarsch. Am Horizont zeichnet sich das düstere Bild eines wirtschaftlich implodierenden Europas ab, in dem alle Beteiligten gegeneinander kämpfen. Es wäre das Vermächtnis der großen Koalitionen in Brüssel und Berlin, von Angela Merkel und Sigmar Gabriel, Jean-Claude Juncker und Martin Schulz – und all den willigen oder fahrlässigen Helfershelfern auf konservativer und sozialdemokratischer Seite.
Noch aber ist es nicht soweit. Die griechische Regierung hat, ob aus Selbsterhaltungstrieb oder ehrlicher Neigung zur Demokratie, ein Referendum ausgerufen. Das „freche Bürschchen“, wie CDU-Fraktionschef Kauder den griechischen Regierungschef Tsipras einmal nannte, hat die Totalunterwerfung verweigert und die Unverschämtheit besessen, die Bürger nach ihrer Meinung zu fragen. Man hatte ihm die Folterwerkzeuge gezeigt, jetzt werden sie angewendet. Wollen wir dabei Zuschauer bleiben? Und warten, bis wir selbst an der Reihe sind?
Die EU braucht einen radikalen Richtungswechsel, sonst hat sie keine Zukunft. Immer offensichtlicher agieren ihre Spitzen gegen die eigenen Bürger, nicht nur in der Eurokrise, sondern auch in den geheimen Verhandlungen zu Handels- und Investitionsschutzabkommen wie TTIP, die elementare demokratische Standards außer Kraft zu setzen drohen. Zugleich setzt diese EU auf eine militarisierte Flüchtlingsabwehr und nimmt dabei den Tod von tausenden Menschen an ihren Außengrenzen zynisch in Kauf. Es ist höchste Zeit, dass die Bürger gegen diese menscheinfeindlichen Entwicklungen auf die Straße gehen. Und zwar massenhaft.
Fabian Scheidler, 30.6.2015
Dieser Beitrag erschien erstmals auf www.kontext-tv.de.
Fußnoten:
1: IMF Discussion Note: Causes and Consequences of Income Inequality, Washington 2015
2: Frankfurter Rundschau, 29.6.2015
3: Zerohedge, 28.6.2015