von Fabian Scheidler und David Goeßmann.
Endlich habe die EU wieder Stärke und Einigkeit gezeigt, endlich sei sie wieder in der Lage, ihre Außengrenzen zu sichern, so die offiziellen Verlautbarungen nach dem EU-Gipfel. Doch der Pakt mit der Türkei ist tatsächlich ein Tag der Schande für Europa. Es ist ein Triumph der Zyniker, ein Kniefall vor den Rassisten in der EU, eine vollständige Preisgabe der angeblich europäischen Werte.
Für die vielen Menschen, die weiter fliehen, um ihr Leben zu retten oder Unterdrückung und Elend zu entkommen, soll die Reise nun schon in der Türkei enden. Drei Milliarden Euro wird der türkische Präsident Erdogan für die Flüchtlingsabwehr erhalten, und noch einmal so viel in zwei Jahren, während er sein Land zunehmend unter Kontrolle eines autoritären Regimes stellt, die Pressefreiheit – siehe den Fall Zaman – massiv bekämpft, den Krieg gegen den kurdischen Teil der eigenen Bevölkerung eskaliert und weiterhin die Terrororganisation Al-Nusra-Front (alias Al Qaida in Syrien), wahrscheinlich auch den syrischen IS unterstützt. Als Gegenleistung für das Wegschauen der EU soll die Türkei die Geflüchteten festhalten und die aus Griechenland Abgeschobenen aufnehmen. Für jeden Syrer, der es bis nach Griechenland schafft und von dort zurück in die Türkei deportiert wird, soll wiederum ein Syrer legal in die EU kommen. Die absurde Logik dabei: Nur wenn Menschen ihr Leben in der Ägäis riskieren, entstehen „legale“ Einreiseplätze. Doch das gilt auch nur für Syrer, nicht für Afghanen, Iraker, Eitreer und andere Menschen, die vor Krieg, Elend und Verfolgung fliehen. Maximal 72.000 Plätze werden dafür zur Verfügung stehen – nicht pro Jahr sondern insgesamt. Das sind 0,000144 Prozent der EU-Bevölkerung. „Legal“ ist nun offiziell, was Flüchtlinge abschreckt und die Genfer Konvention mit Füßen tritt. Die EU, eine der reichsten Regionen der Welt, ist damit endgültig zur Festung geworden. Die Quoten erinnern an die dunkelsten Kapitel des 20. Jahrhunderts, als die USA, Großbritannien und viele andere Staaten ähnlich niedrige Quoten für jüdische Flüchtlinge einführten. In die USA etwa durften, als der Holocaust sich anbahnte, nur noch 27.000 Juden pro Jahr einreisen.1 Hunderttausende hätten gerettet werden können.
Die türkische Regierung hat angekündigt, das EU-Geld unter anderem für den Aufbau von Schulen und Krankenhäusern zu benutzen. Ob das geschieht und das Geld bei den bedürftigen Flüchtlingen ankommt, ist sehr fraglich. Amnesty International hat Hinweise gefunden, dass türkische Haftanstalten, in die Flüchtlinge deportiert werden, mit EU-Hilfe gebaut bzw. betrieben werden. Selbst wenn die Gelder vernünftig verwendet werden: Drei bzw. sechs Milliarden Euro für fast drei Millionen Geflüchtete sind vollkommen unzureichend. Allein 400.000 syrische Kinder leben schon jetzt ohne Schulerziehung in der Türkei. Viele von ihnen müssen täglich arbeiten, um Geld zum Überleben zu verdienen, z.B. in Fabriken von H&M oder Next. Zehntausende von Geflüchteten brauchen dringend medizinische Hilfe. Türkische Hilfsorganisationen befürchten, dass die Türkei zu einem „Freiluftgefängnis für verzweifelte Flüchtlinge“ wird. Die EU ist dabei, ein Archipel von Lagern an seiner Außengrenze aufzubauen, die – so die unausgesprochene Logik dabei – so unmenschlich sein werden, dass die Flüchtenden lieber zwischen den Fronten von Assad und IS oder in den zahlreichen Konflikt- und Elendsgebieten bleiben.2
Und die Bundesregierung? Angela Merkel hat bei aller Wir-schaffen-das-Rhetorik bereits seit langer Zeit daran gearbeitet, die Grenzen der Festung Europa in die Türkei und nach Nordafrika zu verschieben. Die bisherige Grenzschutzagentur Frontex soll verstärkt und zu einer neuen Europäischen Grenz- und Küstenwache umgebaut werden. Bereits jetzt agiert die NATO mit Kriegsschiffen in der Ägäis zur Abwehr von Geflüchteten.3 Auch das gehört zum „Merkelschen Humanismus“. Jetzt hat sie angesichts des Aufstiegs der AfD die Reste humaner Politik dem parteipolitischen Machterhalt geopfert. Die AfD hat damit, noch bevor sie nur einen Landtagsitz erobert hatte, politisch bereits gewonnen. Sie treibt Union und SPD und sogar Teile der Grünen und Linken vor sich her. Und einige Journalisten in diesem Land haben dabei erhebliche Schützenhilfe geleistet, vor allem in der Zeit nach der Kölner Silvesternacht. Bemerkenswert ist vor allem, worüber nicht oder nicht mehr gesprochen wird, etwa im Kanzlerinnen-Interview von Anne Will: Nicht einmalwurde die existentielle Not der Flüchtenden an den Grenzen angesprochen, nichteinmal war die Rede davon, ob Deutschland als eines der reichsten Länder der Erde nicht mehr statt weniger helfen könnte, nicht einmal wurde beim Wort „Fluchtursachen“, das die Kanzlerin ständig verwendet, nach deutschen Waffenlieferungen oder den Auswirkungen deutscher Exportsubventionen gefragt, nicht einmal wurde über die fatale Rolle unseres „Partners“ Türkei im Nahen Osten gesprochen, geschweige denn über die der USA oder Saudi-Arabiens. Stattdessen war der treibende Tenor der Fragen: Wann werden Sie endlich die Grenzen dicht machen? Medien können aus den Stimmen von radikalen Minderheiten wie Pegida und AfD Herdenbewegungen machen, indem sie ihnen ein Megaphon verschaffen. Hätte man den Millionen von Helfenden in Deutschland, die mit aller Kraft daran arbeiten, den Ankommenden ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, in den letzten zwei Monaten ebenso viel Sendezeit eingeräumt wie Pegida und AfD, dann hätten wir eine andere öffentliche Debatte – und möglicher Weise auch noch eine Chance auf eine andere Politik.
Aber Rassismus verkauft sich, auch wenn man sich darüber empört. Nicht nur in Europa. Der Chef des US-Privatsenders CBS hat es in Bezug auf den Rassisten Donald Trump, der eine Mauer an der mexikanischen Grenze bauen will, so formuliert: „Wer hätte diese Welle erwartet, auf der wir jetzt alle reiten? Für Amerika mag das nicht gut sein, aber es ist verdammt gut für CBS. Es wird ein sehr gutes Jahr für uns werden. Es tut mir leid, es ist schrecklich, das zu sagen, aber: Mach weiter, Donald!“4
Den Preis für den gesammelten Zynismus zahlen die Menschen in Griechenland, das zu einem gescheiterten Staat zu werden droht, in der Türkei, wo die Reste von Demokratie straflos zerstört werden, und vor allem die Kurden, Syrer, Iraker, Afghanen, Roma und Eritreer, die Gefangene von Krieg und Chaos bleiben werden.
Dabei wären die wohlhabenden EU-Länder durchaus in der Lage, noch viele Millionen Geflüchtete aufzunehmen, ohne selbst im Chaos zu versinken – oder auch nur Wohlstandseinbußen hinnehmen zu müssen. Denn Geld ist genug da, man muss es nur bei den Richtigen holen. Zum Beispiel bei der wachsenden Zahl von Multimillionären und Milliardären. Mit einer Vermögensabgabe etwa ließen sich große öffentliche Wohnungsbauprogramme auflegen, die wir sowohl für Geflüchtete als auch für Millionen von deutschen Staatsbürgern brauchen, die derzeit vergeblich versuchen, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Solche Programme werden von der Bevölkerung willkommen geheißen, sobald sie allen zu Gute kommen und keine neuen Schranken zwischen Menschen verschiedener Herkunft errichten. In Kommunen könnten Tausende von neuen Jobs geschaffen werden, etwa in Schulen, Kitas oder Gesundheitseinrichtungen. Und jeder Euro, der so investiert wird, fließt letztlich in den wirtschaftlichen Kreislauf zurück. Geflüchtete in Deutschland beleben die Konjunktur (um rund 0,5 Prozentpunkte sagen Fachleute für 2016), schaffen Arbeitsplätze und erzeugen zugleich höhere Steuereinnahmen. Die angebliche Krise finanziert sich gewissermaßen selber.5 Die Klage, dass die Geflüchteten uns in diesem Jahr 20 Milliarden Euro kosten, reiht sich nahtlos ein in die Galerie politischer Flüchtlingsmythen. Statt Waffen für die Türkei und Saudi-Arabien zu produzieren oder mit Exportsubventionen die Märkte Afrikas mit Dumping-Waren zu überschwemmen, können wir genauso gut menschenwürdige Lebensverhältnisse bei uns und anderswo schaffen.
Angesichts sich verschärfender globaler Krisen – des Klimawandels, einer maroden Weltwirtschaft und zunehmenden Kriegen – werden in Zukunft nicht weniger sondern mehr Menschen nach Europa wollen. Wir müssen endlich begreifen, dass Europa ein Einwanderungskontinent ist. Das zu organisieren, bedeutet einen gewissen Aufwand, aber es ist kein Hexenwerk. Während die EU Raumfahrtmissionen für den Mars vorbereitet, sollte sie doch in der Lage sein, eine Zuwanderung von etwa 0,3 Prozent ihrer Bevölkerung pro Jahr zu managen – denn mehr war es auch im Jahr 2015 nicht. Dann brauchen wir auch keine Lager an den Außengrenzen und keinen schmutzigen Pakt mit der Türkei. Statt sich von Erdogan erpressen zu lassen, könnte die EU Bedingungen an die bereits seit Jahren fließenden EU-Hilfsgelder knüpfen und die Waffenlieferungen stoppen. Druckmittel gäbe es genug, um die Wiederherstellung der Pressefreiheit und ein Ende des Kriegs gegen die Kurden einzufordern. Die EU-Regierungen haben einen anderen Weg gewählt – zu unserer aller Schande.
Dieser Beitrag erschien erstmals am 21. März 2015 auf www.kontext-tv.de.
Fußnoten:
2: http://www.theguardian.com/world/2016/mar/05/europe-refugees-action-plan-turkey-syria
https://www.amnesty.org/en/documents/eur44/3022/2015/en
3: http://www.migazin.de/2015/12/17/nach-rekord-einwanderung-eu-grenzschutz/
4: http://www.commondreams.org/views/2016/03/02/trump-campaign-bad-america-good-cbs
5: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/frickes-welt-fluechtige-kosten-1.2…
Kontext-TV-Sendungen zum Thema Fluchtursachen und Migration: