Martin Luther, der Bauernkrieg und die Formation der kapitalistischen „Megamaschine“

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von Fabian Scheidler*

In der Frühen Neuzeit, vom 15. bis ins 17. Jahrhundert, formierte sich das, was in der Weltsystem-Theorie – u.a. von Immanuel Wallerstein und Giovanni Arrighi – das moderne (kapitalistische) Weltsystem genannt wird.[1] Ich benutze dafür, in Anlehnung an eine Wortprägung des amerikanischen Historikers Lewis Mumford, die Metapher der „Megamaschine“.[2] Dieses System formierte sich mit dem Niedergang des Feudalismus gegen den massiven Widerstand von egalitären Bewegungen, die sich seit dem 14. Jahrhundert überall in Europa ausbreiteten und in Deutschland im Bauernkrieg 1524/25 kulminierten.[3] Es wurde einerseits das dynamischste und produktivste Gesellschaftssystem der Geschichte, das bestimmten Schichten der Weltbevölkerung enormen Wohlstand bescherte, und zugleich das destruktivste, untrennbar verbunden mit einer Kette von Vertreibung und Entwurzelung – bis hin zum Völkermord –, verheerenden Kriegen und einer tiefen Spaltung zwischen Arm und Reich, die von Anfang an charakteristisch für das neue System war. Es ist eben dieses soziale und ökonomische System, das uns heute eine Krise des Lebens auf der Erde beschert, die nicht nur das Klima betrifft, sondern auch die Artenvielfalt, die Zerstörung fruchtbarer Böden und Süßwasserquellen, die Ozeane und Wälder.[4]

Dieses System fußt auf drei Säulen:

  1. Die endlose Akkumulation von Kapital, verkörpert zunächst in den Handelshäusern und Banken des Frühkapitalismus, etwa in Venedig, Genua, Antwerpen oder Augsburg, später in Form der ersten Aktiengesellschaften, deren erste 1602 in Amsterdam gegründet wurde.
  2. Die modernen, militarisierten Territorialstaaten, die nur mithilfe des Handelskapitals geschaffen werden konnten und miteinander um militärische Macht und Kapital konkurrieren.
  3. Eine Mythologie der radikalen Überlegenheit Europas, mit der die gewaltsame Expansion dieses System legitimiert wurde, zunächst im Gewand der christlichen Religion, später, seit der Aufklärung, im Namen von „Zivilisation“, „Rationalität“, „Fortschritt“, „Entwicklung“ und schließlich der „westlichen Werte“.[5]

Renaissance: Aufbruch ins Licht?

Zu dieser Mythologie gehört auch die Verklärung der anbrechenden Neuzeit und der Renaissance als eine Epoche des Lichts, während das Mittelalter als Epoche der Finsternis imaginiert wird. Tatsächlich aber war die beginnende Neuzeit mit einer massiven Verdüsterung der Lebensverhältnisse für die Mehrheit der Menschen in Europa und in den von Europäern eroberten Gebieten verbunden. Das zeigt sich auch daran, dass diese Epoche wie kaum eine andere von apokalyptischen Endzeiterwartungen geprägt war. Prediger zogen umher, um das Ende der Welt zu verkünden, die Angst vor Teufel und Hölle wurde epidemisch in dieser Zeit, die Darstellung von Totentänzen geradezu inflationär. Der französische Historiker Jean Delumeau spricht in seinem Buch „Angst im Abendland“ von einer kollektiven Angstepidemie im Europa der Frühen Neuzeit.[6] Der Hintergrund dieser Ängste ist eine Ausbreitung von Gewaltverhältnissen, die wir oft fälschlich dem Mittelalter zuschreiben: Die Inquisition weitet sich im 16. Jahrhundert massiv aus, Hexenverfolgungen, die im Mittelalter eine eher geringe Rolle spielten, erreichen ihre Höhepunkte in der Zeit von 1550 bis 1700, die Folter sowie extrem brutale Hinrichtungsarten werden systematisch und im großen Maßstab angewendet, vor allem um gegen dissidenten Bewegungen vorzugehen. In der Ökonomie verschärft sich die Spaltung zwischen Arm und Reich, die Reallöhne sinken in der Frühen Neuzeit massiv, in manchen Regionen um bis zu 70 Prozent, und erreichen erst im 19. Jahrhundert wieder das Niveau des 15. Jahrhunderts.[7] Zugleich war diese Zeit verbunden mit einer massiven Entrechtung von Frauen. Anders als im Mittelalter wurde Frauen etwa Schritt für Schritt das Recht entzogen, Meisterbetriebe zu führen, wenn der Mann verstorben war. In den Heilberufen wurden Frauen nach und nach verdrängt und durch die Hexenprozesse dämonisiert.[8] Die anbrechende Neuzeit markiert auch den Beginn einer Kette von Völkermorden im Zuge der Expansion der Megamaschine, angefangen bei der Conquista Mittel- und Südamerikas, die den bis dahin größten Genozid der Geschichte darstellt, finanziert von den großen Handelshäusern und Banken in Genua, Antwerpen und Augsburg, gefolgt vom atlantischem Sklavenhandel, dem Völkermord an den Indigenen Nordamerikas und den Verbrechen der Kolonialzeit. Es ist, um es kurz auf den Begriff zu bringen, eine „Epoche der Monster“.

Vorgeschichte: Die Krise des feudalen Systems

Wie aber ist es zur Formation des modernen Weltsystems und zur Entfesselung dieser „Monster der Moderne“ gekommen? Im 14. Jahrhundert gerät der Feudalismus in eine schwere Krise. Ein Grund dafür ist ein (nicht menschengemachter) Klimawandel: Massive Kälteeinbrüche in der Zeit von 1315 bis 1322 läuteten das Ende der hochmittelalterlichen Warmzeit ein. Schwere Ernteausfälle und eine Ernährungskrise waren die Folge, die unter dem Namen „Der Große Hunger“ in die Geschichte eingingen. Ab 1348 zog die Pest, ausgehend von den Häfen Genuas und Venedigs, in Europa ein und wütete unter der durch die Ernährungskrise geschwächten Bevölkerung. Sie kostete bis zu einem Drittel der Menschen Mitteleuropas das Leben. Eine Folge dieser Katastrophe war, dass große Ländereien brach lagen. Gab es zuvor eine Knappheit von Land, so drehte sich das Verhältnis nun um: Es gab viel Land und relativ wenige Menschen. Damit fielen die feudalen Erträge, während die Verhandlungsmacht der Bauern gegenüber den Grundherren wuchs.[9]

Im 14. Jahrhundert war außerdem ein Erstarken sozialer Bewegungen, getragen von Bauern und Handwerkern, zu beobachten, die sich gegen Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse zur Wehr setzten und in einigen Fällen das Ziel einer egalitären Gesellschaft verfolgten. Die Ursprünge dieser Bewegungen reichen ins 13. Jahrhundert zurück, als sogenannte „Armutsbewegungen“, die sich auf Franz von Assisi beriefen, den Reichtum der Kirche anprangerten und sich apokalyptische Bewegungen, die auf das von Joachim von Fiore für das Jahr 1260 angekündigte neue Zeitalter hofften, ausbreiteten. Im 14. Jahrhundert, unter den Bedingungen der feudalistischen Krise, entwickelten sich dann Bewegungen, die die weltlichen und kirchlichen Mächte massiv herausforderten. Eine kleine Liste – die keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat – kann das verdeutlichen:[10]

  • 1323 besetzen Bauern und Handwerker die Handelsstadt Brügge.
  • 1358 erheben sich Bauern in den sogenannten „Jaqueries“ in Frankreich.
  • In den 1370er Jahren übernehmen Aufständische die Regierung von Gent und großen Teilen Flanderns.
  • 1378 übernehmen Textilarbeiter die Regierung von Florenz („Ciompi-Aufstand“).
  • 1381 besetzen Aufständische im Rahmen der „Peasants’ Revolt“ in England den Londoner Tower.
  • In den 1420er Jahren halten die Hussiten, die sich auf Jan Hus berufen und eine egalitäre Gesellschaft schaffen wollen, große Teile Böhmens.
  • Seit 1493 breitet sich die Bundschuhbewegung im Elsass und Breisgau aus.
  • In Deutschland eskalieren die Auseinandersetzungen 1524/25 im Bauernkrieg.
  • In den 1520er und 1530er Jahren breitet sich die Täuferbewegung vom Südwesten her aus; in Münster wird ein Täuferreich ausgerufen.

Viele dieser Bewegungen waren apokalyptisch inspiriert, sie erwarteten eine Zeitenwende und ein Eingreifen Gottes zugunsten der Entrechteten. Landesherren, Feudalherren, Kirche und Großkapital antworteten auf diese Herausforderungen mit einer Palette von Mitteln. Dazu gehörte auch eine zunehmende Militarisierung sowie die Ausweitung der Folter und Blutgesetzgebung. 1532 legalisierte das erste deutsche Strafgesetzbuch, die Constitutia Criminalis Carolina, die Folter und grausamen Hinrichtungsarten wie Rädern, Lebendigbegraben, Verbrennen und Vierteilen. Die Inquisition wurde verschärft und ausgeweitet und die neuen Möglichkeiten des Buchdrucks wurden für Propagandazwecke intensiv genutzt.

Aus diesen sozialen Kämpfen überall in Europa, an denen sehr unterschiedliche Kräfte und Interessen beteiligt waren, entstand schließlich das kapitalistische Weltsystem. Eine entscheidende Rolle spielte dabei die Verbindung von Großkapital und den sich formierenden militarisierten Territorialstaaten, wie sie am deutlichsten beim Aufbau von Söldnerheeren zutage trat. Im Hochmittelalter waren die größten Armeen 7000 bis maximal 10000 Mann stark und konnten auch nur für begrenzte Zeit eingesetzt werden. Sie beruhten im Wesentlichen auf feudalen Pflichten, nicht auf Sold. Mit dem Hundertjährigen Krieg (1337-1453) erlebte Europa dann aber eine massive Kommerzialisierung und Ausweitung des Kriegswesens.[11] Landesherren hatte schon lange versucht, den Silberbergbau und die Geldwirtschaft, die seit der Antike verfallen waren, wiederzubeleben, um große Söldnerheere aufzubauen. Zugleich entwickelte sich nach Einführung der Feuerwaffen im 14. Jahrhundert ein fieberhafter Rüstungswettlauf, der enorme Investitionen und damit Kapital verschlang. In dieser Lage konkurrierten die entstehenden Territorialstaaten um mobiles Kapital zur Finanzierung ihrer Söldnerarmeen, Kanonen und Befestigungsanlagen, und es war vor allem das überschüssige Handelskapital der italienischen Stadtstaaten Florenz und Genua, das den Landesherren die Liquidität zur Verfügung stellen sollte.[12] Umgekehrt boten die Landesherren den Kapitalbesitzern Schutz, Monopole und eine Ausweitung der Märkte durch die gewaltsamen Eroberungen, die die Banken finanzierten. Kapital und moderner Staat waren (und sind) also nicht, wie bisweilen irrtümlich geglaubt wird, ein Gegensatzpaar, sondern haben sich gemeinsam, co-evolutionär entwickelt. Weder konnte der moderne Staat ohne das Kapital der Händler entstehen, noch konnten die Kapitalbesitzer ihre Netzwerke – auch über Krisen hinweg – ohne die physische Gewalt des Staates kontinuierlich ausbauen.

Eine zentrale Rolle spielte dabei der metallurgische Komplex, der sowohl das Silber und Gold für die expandierende Geldwirtschaft als auch Kupfer, Zinn und Eisen für die Rüstung lieferte.[13] In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts konnte die Augsburger Familie der Fugger den weltweit größten Montan- und Finanzkonzern aufbauen, der zum wichtigsten Finanzier der Habsburger Dynastie aufstieg und, gemeinsam mit den Genueser Banken, auch die spanische Conquista Mittel- und Südamerikas einschließlich der damit verbundenen Völkermorde finanzierte.

Die neue, durchschlagende Verbindung von Großkapital und Militär ermöglichte es auch, die „innere Kolonisierung“ voranzutreiben. Neue Steuern konnten mithilfe der auf Kredit finanzierten Söldnerheere immer effektiver eingetrieben werden, Widerstand gegen die Privatisierung der Allmenden – die „Einhegungen“, die Karl Marx als Teil der „Ursprünglichen Akkumulation“ beschrieb[14] – konnte wirkungsvoll gebrochen werden. Die Konfliktlinien der Reformation und des Bauernkrieges können nur vor diesem Hintergrund angemessen verstanden werden.

Reformation und Bauernkrieg              

Die Reformation und auch die Bauernkriege waren keine einheitlichen Bewegungen sondern Felder der Auseinandersetzung inmitten von sozialen Kämpfen und der Formation des kapitalistischen Weltsystems. Man kann in diesem Zusammenhang durchaus von „frühneuzeitlichen Revolutionen“ sprechen, die stellenweise die Konfliktlinien der späteren großen europäischen Revolutionen vorwegnahmen.

Zu den Konfliktparteien gehörten unter anderem Landesherren, Bauern, Feudalherren, städtische Bürger, die Kirche und das Großkapital, wobei sich die Frontlinien immer wieder verschoben und oft wechselnde Bündnisse zwischen verschiedenen Akteuren und Fraktionen entstanden. Die Landesherren waren am Ausbau ihrer territorialen Machtbasis interessiert – und auch daran, kirchliche Güter in ihren Besitz zu bringen. Entrechtete Bauern kämpften gegen Einhegungen, zunehmende Steuerlasten (die vor allem der Kriegsführung dienten), Willkürherrschaft und Blutgesetzgebung. Feudalherren des niederen Adels verbündeten sich stellenweise mit Bauern gegen Fürsten, weil sie ihren Einfluss durch deren aufsteigende Macht gefährdet sahen, meist agierten sie aber gegen die Bauern. Auch städtische Bürger gingen wechselnde Allianzen ein, je nachdem, welche Fraktionen ihnen vorteilhafter schienen.

Das Großkapital, etwa das Haus Fugger, finanzierte und belieferte verschiedene Seiten und profitierte so über lange Zeit von der Verschärfung der Konflikte. Es trug durch die Finanzierung der gegen die Bauern gerichteten Heere schließlich erheblich zu deren Niederschlagung bei. Die römische Kirche verfolgte neben ideologischen auch handfeste finanzielle Interessen, etwa im Bereich der Abgaben, des Ablass- und Reliquienhandels.

In dieser Gemengelage wurde ideologische Macht zu einem entscheidenden Faktor und die Religion zum Kriegsschauplatz. Die Konfliktlinien verliefen dabei keineswegs einfach zwischen „Reformatoren“ und römischer Kirche, sondern auch quer durch die verschiedenen Strömungen der Reformation. Während sich Martin Luther im Bauernkrieg auf die Seite der Landesherren schlug, ergriff Thomas Müntzer als Feldprediger Partei für die Bauern.[15] Beide beriefen sich auf das Neue Testament, doch leiteten sie daraus entgegengesetzte Gesellschaftsentwürfe ab: Während bei Müntzer, um einen anachronistischen Begriff zu gebrauchen, so etwas wie Umrisse einer frühneuzeitlichen „Theologie der Befreiung“ zu erkennen sind, für die soziale Gerechtigkeit zentral ist, nahm Luther eine autoritäre, obrigkeitsstaatliche Haltung ein. Auf dem Höhepunkt des Bauernkrieges rief er dazu auf, man solle die Aufständischen „zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen muss.“ Und er fährt fort: „Solche wunderliche Zeiten sind jetzt, dass ein Fürst den Himmel mit Blutvergießen verdienen kann.“[16]

Die Bauernheere wurden schließlich von Söldnerarmeen, die unter anderem von Jakob Fugger finanziert wurden, zerschlagen, in Schlachten, die man nur noch als Massaker bezeichnen kann: Bei Frankenhausen wurden mindestens 6000 Bauern getötet aber nur ein halbes Dutzend Söldner – ein Indiz für die ungeheure Übermacht des modernen Geld-Krieg-Komplexes. „Ich möchte mich fast rühmen“, schrieb Luther 1526, als das große Schlachten vorüber war, „dass seit der Zeit der Apostel das weltliche Schwert und die Obrigkeit noch nie so deutlich beschrieben und gerühmt worden ist wie durch mich.“[17] Mithilfe von Luthers ideologischer Rückendeckung konnten sich schließlich die evangelischen Landesfürsten die Kirchengüter einverleiben, die die Bauern ursprünglich in Gemeindebesitz umwandeln wollten.

Die Zeit der Erhebungen war damit jedoch noch nicht vorbei. Ausgehend von der Schweiz verbreitete sich die Bewegung der Täufer über große Teile Mitteleuropas. Unter dem Eindruck der frisch ins Deutsche übersetzten Evangelien berief sie sich auf die Prinzipien der Gewaltlosigkeit, Gütergemeinschaft und Selbstbestimmung, wie sie in der Jesus-Bewegung verankert waren. Verfolgt wurden sie nicht nur von Landesherren und der römischen Kirche, sondern auch von anderen Reformatoren wie Huldrych Zwingli, auf dessen Betreiben zahlreiche Täufer gefoltert und hingerichtet wurden. Auch Lutheraner beteiligten sich an den Verfolgungen, und zwar mit einer bemerkenswerten Begründung: Die Weigerung der Täufer, als Soldaten zu dienen oder in Ämtern, die mit Gewaltausübung verbunden waren, verstoße gegen Gottes Ordnung. Noch heute werden protestantische Pastoren in Deutschland auf die Confessio Augustana von 1530 ordiniert, in der es einen expliziten Passus gegen die Gewalt- und Eigentumsverweigerung der Täufer gibt:

Von Polizei und weltlichem Regiment wird gelehrt, daß alle Obrigkeit in der Welt und geordnetes Regiment und Gesetze gute Ordnung, von Gott geschaffen und eingesetzt sind, und daß Christen ohne Sünde im Obrigkeits-, Fürsten- und Richteramt sein mögen, nach kaiserlichen und anderen üblichen Rechten Urteil und Recht zu sprechen, Übeltäter mit dem Schwert zu bestrafen, rechtmäßige Kriege zu führen, zu streiten, zu kaufen und zu verkaufen, aufgelegte Eide zu tun, Eigentum zu haben, ehelich zu sein etc. Hier werden diejenigen verdammt, die lehren, daß es christliche Vollkommenheit sei, (…) sich der vorgenannten Stücke zu entäußern.[18]

In Münster spitzten sich diese Konflikte in besonderer Weise zu. Ein Teil der Stadt wollte die lutherische Ordnung (einschließlich der Confessio) durchsetzen, doch die Bevölkerungsmehrheit schloss sich der Fraktion der Täufer an. Bemerkenswerterweise waren drei Viertel davon Frauen – was angesichts der frauenfeindlichen Positionen Luthers nicht verwunderlich ist. Die Täufer riefen eine Gütergemeinschaft nach dem Vorbild der Jerusalemer Urgemeinde aus und verbrannten die Schuldenregister des Stadtarchivs, während sich um die Stadt bereits die fürstbischoflichen Truppen zusammenzogen. In dieser Lage schwangen sich apokalyptische Propheten als Führer der Bewegung auf und verkündigten das bevorstehende Erscheinen Christi. Der Heiland aber erschien nicht, stattdessen wurde die Stadt im Jahr 1535 von den übermächtigen Truppen erobert.[19] Die Führer der Bewegung wurden öffentlich gefoltert und hingerichtet: Mit glühenden Zangen riss man ihnen die Zungen und andere Teile des Körpers aus, bevor sie schließlich erdolcht wurden. Ihre Leichen wurden am Kirchturm in eisernen Körben aufgehängt und zur Schau gestellt, „dass sie allen unruhigen Geistern zur Warnung und zum Schrecken dienten, dass sie nicht etwas Ähnliches in Zukunft versuchten oder wagten“.[20] Das Münsteraner Täuferreich zeigt die Tragik der egalitären Bewegungen, die angesichts ihrer Ohnmacht gegenüber dem erstarkten Geld-Militär-Komplex in apokalyptische Phantasmen entgleiten.

Die Apokalyptik war aber nicht nur für die Täufer fundamental, sondern ebenso für Luther, Müntzer und auch Calvin. Allerdings war sie jeweils von sehr unterschiedlichen Inhalten gefüllt. Erwartete Müntzer ein Reich der Gleichberechtigten nach dem Vorbild der Urgemeinde, so deutete Calvin eine Generation später die biblische Apokalyptik in ein kapitalistisches Selektionsverfahren um, in dem die wirtschaftlich Erfolgreichen sich als die von Gott Erwählten erwiesen. Diese Lehre war eine perfekte Legitimationsstrategie für die massive gesellschaftliche Ungleichheit, die vom modernen Weltsystem produziert wurde. Denn wenn Armut und Reichtum von Gott vorherbestimmt sind, so ist es sinnlos dagegen aufzubegehren. Es ist daher kein Zufall, dass diese Lehre vor allem in den neuen atlantischen Zentren der Kapitalakkumulation, insbesondere den Niederlanden, England und später den USA gedieh.

Ausblick

Mit der Zerschlagung der Bauern- und der Täuferbewegung waren in Deutschland die Träume einer gerechteren oder gar egalitären Gesellschaft für lange Zeit zerschlagen. Deutsche Lande wurden für Jahrhunderte zum Inbegriff von Repression und autoritären Strukturen. Im weiteren Horizont war diese Phase ein entscheidender Schritt zur Konsolidierung des modernen Weltsystems in Mitteleuropa.

Was sich in den folgenden Jahrhunderten ereignete, war eine geradezu explosive Expansion dieses Systems um die ganze Erde, finanziert durch die Händler-Bankiers, durchgesetzt mit den Waffen des metallurgischen Komplexes und den Söldnern der Landesherren (die bald von den Privatarmeen der Aktiengesellschaften ergänzt wurden), legitimiert durch die Erzählung der zivilisatorischen Überlegenheit Europas.

Die gewaltsame Durchsetzung autoritär-zentralstaatlicher und kapitalistischer Strukturen war aber keineswegs das Ende der Geschichte: Egalitär orientierte Bewegungen flammten immer wieder in Europa auf, von der „Great Rebellion“ im England des 17. Jahrhunderts über die Französische Revolution bis zu den Arbeiter-, Frauen und Anti-Kolonialbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts.[21]

Im 21. Jahrhundert zeichnet sich nun ein erneuter Systemumbruch ab. Den in der Konkurrenz um mobiles Kapital gefangenen Nationalstaaten gelingt es weder, die globale ökologische Katastrophe zu stoppen, die von der Logik der endlosen Akkumulation angetrieben wird, noch die sich verschärfende Spaltung zwischen Arm und Reich zu überwinden. Angesichts dieser ungelösten – und in der Systemlogik nicht lösbaren – Doppelkrise bewegen wir uns in eine chaotische Übergangsphase mit ungewissem Ausgang hinein.[22] Soziale Bewegungen können dabei eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, ob sich neue autoritäre Kräfte durchsetzen oder Wege in Richtung einer gerechteren und zukunftsfähigen Gesellschaft beschritten werden.

 

* Der Beitrag ist erstmals erschienen in: Freie Akademie: Religiöser Pluralismus und Deutungshoheit in der Reformation, hrsg. von Ulrich Bubenheimer und Dieter Fauth, Neu-Isenburg 2017. Er basiert auf dem Vortrag Egalitäre Bewegungen in der Reformationszeit und die Entstehung des modernen Weltsystems vom 7. Mai 2016.

 

Fußnoten:

[1] Wallerstein 1986, 2004; Arrighi 2010

[2] Scheidler 2015; Mumford 1974

[3] Federici 2012, S. 25-73

[4] UNEP 2016; Scheidler 2015, S. 200 ff.

[5] Wallerstein 2010; Scheidler 2015, S. 63-67, 142 f.

[6] Delumeau 1985

[7] Federici 2012, S. 92 ff.; Wallerstein 1986, S. 111

[8] Federici 2012, S. 220-233

[9] Scheidler 2015, 75 f.; Federici 2012, S. 55-60

[10] Bookchin 1996, S. 22-60

[11] Arrighi 2010, S. 109; Scheidler 2015, S. 81 ff.

[12] Arrighi 2010, S. 111-129

[13] Scheidler 2015, S. 33-38 u. S. 84-87

[14] Marx, MEW 23,765

[15] Vogler 2008/2011

[16] Luther WA 18, 1888 ff. [1525], S. 357-361

[17] Luther 1978 [1526]), S.63

[18] Confessio Augustana, Artikel 16

[19] Zur Geschichte des Täuferreichs in Münster vgl. Vogler 2014

[20] Seifert 1993, S. 42

[21] Bookchin 1996, S. 1-19

[22] Scheidler 2015, S.197-203

 

Literatur:

Giovanni Arrighi (2010): The Long Twentieth Century. Money, Power and the Origins of our Time, London/New York

Murray Bookchin (1996): The Third Revolution. Popular Movements in the Revolutionary Era, Volume 1, London/New York

Confessio Augustana, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirchen, Göttingen 2014

Jean Delumeau (1985): Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg

Silvia Federici (2012): Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation, Wien

Martin Luther (1888 ff. [1525]): Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern, in: Martin Luthers Werke, Band 18, Weimar

Martin Luther (1978 [1526]): Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können, in: Calwer Luther-Ausgabe, Band 4, Gütersloh

Karl Marx: Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation, in. Das Kapital, Band 1, Kapitel 24, MEW 23,765

Lewis Mumford (1974): Mythos der Maschine, Wien

Fabian Scheidler (2015): Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation, Wien

Thomas Seifert (1993): Die Täufer zu Münster, Münster

UNEP – United Nations Environmental Programm (2016): Global Environmental Outlook GEO-6, Nairobi

Günter Vogler (2008/2011): Thomas Müntzer – Sein Weg von der Kanzel zu den aufständischen Bauern und Bürgern, in: Signaturen einer Epoche: Beiträge zur Geschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 2012

Günter Vogler (2014): Die Täuferherrschaft in Münster und die Reichsstände: Die politische, religiöse und militärische Dimension eines Konflikts in den Jahren 1534 bis 1536, Gütersloh

Immanuel Wallerstein (1986): Das moderne Weltsystem. Kapitalistische Landwirtschaft und die Entstehung der europäischen Weltwirtschaft im 16. Jahrhundert, Frankfurt/M.

Immanuel Wallerstein (2004): World-Systems Analysis. An Introduction, Durham

Immanuel Wallerstein (2010): Die Barbarei der anderen – Europäischer Universalismus, Berlin