Die Weltrevolution von 1968

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Ein halbes Jahrhundert nach 1968 sind große Teile der Welt von einer rechten Welle erfasst, ob in Europa, den USA oder Brasilien. Diese Bewegungen lassen sich  auch als ein Versuch deuten, die großen emanzipatorischen Errungenschaften der 1960er und frühen 70er Jahre zurückzudrängen. Ob es die Trumpisten in den USA sind oder die völkisch-nationalen Kräfte in Europa: Stets geht es darum, die Erfolge der Frauen-, Bürgerrechts-, Friedens-, Umwelt-, Kinderrechts- und Arbeiterbewegungen ungeschehen zu machen. In dieser Hinsicht setzt der neue Faschismus mit anderen Mitteln die Ziele des neoliberalen Rollbacks fort, das selbst bereits in Teilen eine Reaktion auf 1968 war. Ein Rückblick auf das, was vor 50 Jahren geschah, ist aus diesem Grund hilfreich, um die Gegenwart zu verstehen.

Die Herausforderung der Megamaschine

Die globale Megamaschine war nach dem Zweiten Weltkrieg mit zwei großen Herausforderungen konfrontiert: zum einen den Unabhängigkeitsbewegungen im Globalen Süden, die in Afrika, Indien, China und Indonesien die kolonialen Fesseln abschüttelten; zum anderen die seit den 1960er-Jahren massiv erstarkenden Bürgerrechts- und Studentenbewegungen, die keineswegs nur auf die USA und Europa beschränkt waren sondern sich wie ein Lauffeuer rund um die Erde verbreiteten, von Japan bis Mexiko, von Prag bis Rio. Diese „Weltrevolution von 1968“ forderte das globale System auf eine viel grundsätzlichere Weise heraus als die mittlerweile etablierten „alten Linken“ – also die kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften –, die kaum mehr als eine Variante des Systemmanagements zu bieten hatten. Die neuen Bewegungen strebten keine bloße Umverteilung von Reichtum an, sondern ein ganz anderes Leben. Sie waren getragen von einer kulturellen Bewegung, einer globalen „Gegenkultur“, die Musik, Theater, Literatur und Film erfasste, sie waren auf der Suche nach neuen Formen des Zusammenlebens und der gemeinsamen Ökonomie jenseits von Kleinfamilie, Staat und Markt. Anders als die am Staatssozialismus orientierte „alte Linke“ forderten die 1968er-Bewegungen alle vier Tyranneien heraus: Die Tyrannei des Marktes, die physische Gewalt des Staates, die ideologische Macht von Medien, Schulen und Universitäten und die Tyrannei des linearen Denkens, der Technokratie, der Idee totaler Herrschaft über die Natur. [1] Mit dem Vietnam-Krieg wurde erstmals in der Geschichte der USA ein laufender Krieg von großen Teilen der eigenen Bevölkerung öffentlich infrage gestellt. Während die ersten Anti-Kriegs-Veranstaltungen Anfang der 1960er-Jahre in winzigen Räumen mit kaum einem Dutzend Teilnehmern stattfanden, waren schon 1965 Hunderttausende auf den Straßen. Zehntausende verweigerten den Wehrdienst und verbrannten öffentlich ihre Wehrpässe, während Musicals wie Hair und die Stücke des „Living Theatre“ weltweit zu Symbolen für den Widerstand gegen die Militärapparate wurden.

Nicht nur das Militär sondern auch alle anderen gesellschaftlichen Disziplinarsysteme, die in der Neuzeit entstanden waren und für das Funktionieren des Systems unentbehrlich sind, wurden infragegestellt: Schule, Psychiatrie, Gefängnis und nicht zuletzt die entfremdete Lohnarbeit. Es ging darum, den „eindimensionalen Menschen“ (Herbert Marcuse), der zum Zahnrad im globalen Getriebe gemacht worden war, zu befreien, und zwar auf allen Ebenen: ökonomisch, politisch, mental, körperlich und emotional.

Die Bewegungen der 1960er- und frühen 1970er-Jahre zerschlugen die Fassaden einer „gelenkten Demokratie“: Hinter den Schaufenstern der Schönen Neuen Konsumwelt zeigten sie die Blutbäder, die im Namen der „westlichen Werte“ rund um den Globus angerichtet wurden – und Vietnam wurde zum Symbol dafür. Der Mythos einer heilsbringenden westlichen Mission wurde öffentlich zertrümmert; und die Filter der Repräsentation, die seit Madisons Zeiten die Stabilität des Systems garantieren sollten, wurden nicht mehr akzeptiert. Überall schossen basisdemokratische Versammlungen, Teach-ins und Sit-ins aus dem Boden. Universitäten wurden von Anstalten, die „technokratisch orientierte Intellektuelle“ (Samuel Huntington) produzieren sollten, zu Orten kollektiver Diskussion über gesellschaftliche Veränderungen.

Besonders bedrohlich erschien es, dass sich die revoltierenden Studenten mit anderen Bewegungen verbanden, die große Teile der bis dahin marginalisierten Bevölkerung auf die Straße brachten: die schwarze Bürgerrechtsbewegung, die Bewegungen der Indigenen Völker und die Frauenbewegung. 1968 wurde in den USA das „American Indian Movement“ gegründet, dem es gelang, die Stimmen der Native Americans in eine breite Öffentlichkeit zu tragen. 1964 hatte es die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA geschafft, die gesetzlich verankerte rassistische Segregation abzuschaffen, und ging nun einen Schritt weiter, indem sie sich mit der Bewegung gegen den Vietnamkrieg verband und sich der Suche nach einer postkapitalistischen Gesellschaft anschloss. Eine „zweite Welle“ der Frauenbewegung stellte die patriarchalen Fundamente von Familie, Politik und Wirtschaft infrage und verband sich ebenfalls mit der Friedensbewegung und der „Gegenkultur“. Praktisch alle Institutionen, auf denen Macht und Herrschaft in den letzten 500, ja 5000 Jahren beruht hatten, wurden massiv herausgefordert.

Die Antwort auf 1968

Das politische und ökonomische Establishment war mit Formen des Widerstands konfrontiert, die bisher unbekannt gewesen waren. Für die Unabhängigkeitsbewegungen des Globalen Südens hatte man Einhegungs-Strategien gefunden, insbesondere durch gewaltsamen Regime Change wie etwa im Iran (1953), in Guatemala (1954), im Kongo (1960) und in Indonesien (1965).[2] Und auch die „alte Linke“ in Nordamerika und Europa war Schritt für Schritt gezähmt worden, vor allem indem man Arbeitern in der Boom-Zeit der Nachkriegsära einen wachsenden Teil vom wachsenden Kuchen abgegeben hatte. Aber die neuen Bewegungen waren mit diesen Mitteln nicht zu bändigen; sie ließen sich weder wegputschen noch kaufen; sie wollten kein größeres Stück vom Kuchen, sondern die ganze Bäckerei. Hinzu kam, dass sich diese Bewegungen zu erheblichen Teilen aus Studenten rekrutierten, die eigentlich dazu ausgebildet werden sollten, die Große Maschine und ihre unzähligen Subsysteme zu steuern – und nicht sie zu zerlegen. Es war daher nötig, einen neuen Instrumentenkasten zu entwickeln, in dem alte, „bewährte“ Mittel mit neuen Strategien kombiniert wurden.

Zu den alten Mitteln gehörte auch die physische Gewalt, obwohl sie zumindest in den „gelenkten Demokratien“ des Westens gewissen Einschränkungen unterlag. Bei den Barrikadenkämpfen in Paris im Mai 1968 setzte die Polizei CS-Granaten ein, Tausende wurden krankenhausreif geprügelt und willkürlich verhaftet, während vor den Toren der Stadt Panzer auf ihren Einsatzbefehl warteten. In Mexiko-Stadt schossen im Oktober 1968 von der Regierung beauftragte Scharfschützen in eine Menge von zehntausend Unbewaffneten, die sich zu einer Protestversammlung versammelt hatten; Hunderte starben oder wurden schwer verletzt. In Berkeley ließ der kalifornische Gouverneur Ronald Reagan mit scharfer Munition in eine friedliche Menge schießen, die einen Park besetzt hatte, während Hubschrauber Tränengas abwarfen; der verantwortliche Sheriff gab selbst zu, dass seine Leute „wie gegen den Vietcong“ gekämpft hätten.[3] In Ohio rückte die Nationalgarde gegen unbewaffnete Studenten vor und erschoss vier von ihnen aus einer Entfernung von 100 Metern mit Dum-Dum-Geschossen. In Brasilien verhaftete, folterte und ermordete die von den USA unterstützte Militärdiktatur unzählige Regimegegner; und in der Tschechoslowakei marschierten Hunderttausende Soldaten des Warschauer Paktes ein, um dem „Prager Frühling“ ein gewaltsames Ende zu bereiten. Nicht immer erreichte die Gewalt ihr Ziel der Abschreckung: Nach dem Ohio-Massaker traten acht Millionen Studenten im ganzen Land in den Streik – die größte studentische Mobilisierung aller Zeiten. In Frankreich solidarisierten sich angesichts der Polizeigewalt die Arbeiter mit den Studenten und organisierten den größten spontanen Streik der französischen Geschichte.

Da der Einsatz offener physischer Gewalt die öffentliche Meinung gegen die Regierung aufbrachte und das System weiter zu destabilisieren drohte, setzten viele Staaten vermehrt auf verdeckte Gewalt. Ein Beispiel dafür ist das geheime „Counterintelligence Program“ (Cointelpro) des FBI, das ursprünglich gegen mutmaßliche Kommunisten entwickelt worden war und nun gegen die Antikriegsbewegung, Martin Luther King, die „Black Panthers“, die Frauenbewegung, das „American Indian Movement“, Studentengruppen und gegen kriegskritische Senatoren eingesetzt wurde. Wie FBI-interne Dokumente zeigen, die 1971 an die Öffentlichkeit kamen, hatte das Programm zum Ziel, kritische Bewegungen, auch vollkommen legale und friedliche, „zu diskreditieren, zu destabilisieren und zu demoralisieren.“ Die Methoden reichten von Schmutzkampagnen gegen Führungspersönlichkeiten der Bewegungen über den Einsatz von agents provocateurs bis zum politischen Mord. Mit anonymen Anrufen und Briefen wurde bei politischen Aktivisten gezielt Paranoia geschürt, Martin Luther King etwa wurde zum Selbstmord aufgefordert. FBI-Angehörige lancierten erlogene Berichte in den Medien, druckten gefälschte Flugblätter und eröffneten politische Fake-Gruppen, um verschiedene Teile der Bewegung gegeneinander aufzuhetzen. Polizei und FBI brachen unter an den Haaren herbeigezogenen Vorwänden in die Wohnungen von Bürgerrechtlern ein und verwüsteten die Einrichtungen; mehrere Mitglieder der Black Panthers wurden in ihren Wohnungen erschossen.[4]

Ein anderes Beispiel ist das 1986 von dem italienischen Untersuchungsrichter Felice Casson aufgedeckte Netzwerk „Gladio“, das von Neofaschisten und Mitgliedern des italienischen Militärgeheimdienstes SISMI, der NATO und der CIA betrieben wurde. Dieses Netzwerk hatte in den 1960er- und 1970er-Jahren zahlreiche Terroranschläge in Italien verübt, mit dem ausdrücklichen Ziel, diese Anschläge linken Organisationen in die Schuhe zu schieben.[5] Der ehemalige italienische Ministerpräsident Andreotti bestätigte auf eine Parlamentsanfrage die Existenz von Gladio und fügte hinzu, dass ähnliche Organisationen in vielen westeuropäischen Ländern existieren.[6] Das Europäische Parlament forderte als Konsequenz dieser Enthüllungen 1990, dass in allen EU-Staaten die Existenz solcher paramilitärischer Geheimorganisationen aufgeklärt wird, um sie schließlich abzuschaffen – jedoch ohne nennenswerten Erfolg.[7] Die von Gladio und anderen Organisationen betriebene Form des Staatsterrorismus, die darauf zielt, einen gesellschaftlichen Ausnamezustand herbeizuführen, um repressive Politik durchzusetzen, ist inzwischen als „Strategie der Spannung“ zu einem festen Begriff geworden.

Das ideologische System ist erschüttert

Anfang der 1970er-Jahre kippte – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Gewalt – in vielen Ländern die Stimmung. Das Klima des Aufbruchs und der kühnen Hoffnungen wich zum Teil einer Atmosphäre der Angst. Viele politische Gruppen spalteten sich in einander befehdende Splitterfraktionen, während sich andere aus der politischen Arena zurückzogen, um sich dem Projekt der spirituellen Befreiung zu widmen; wiederum andere suchten den „Weg durch die Institutionen“ oder flüchteten in den Konsumismus.

Obwohl die staatliche Gewalt zu dieser Zersplitterung und Einschüchterung beigetragen hatte, war sie doch nur bedingt erfolgreich. Die ideologischen Fundamente des Systems waren auf Dauer erschüttert. Mit der Aufdeckung der amerikanischen Kriegsverbrechen im vietnamesischen My Lai (1969) und der Enthüllung der „Pentagon papers“ (1971) war großen Teilen der Bevölkerung klar geworden, dass in ihrem Namen, unter den Masken von Freiheit und Demokratie, ein brutaler Vernichtungskrieg geführt wurde und sie systematisch – von vier aufeinanderfolgenden US-Regierungen – über die Ziele des Krieges und das Ausmaß des Tötens belogen worden waren. Die Aufdeckungen über Cointelpro (1971) und geheime CIA-Programme (1974) zeigten, dass die Regierung auch nicht vor massiver Gewalt gegen die eigene Bevölkerung zurückschreckte. Gegen all dies war Watergate (1972) im Grunde nur eine Fußnote der Geschichte.

Diese Enthüllungen erschütterten nicht nur das politische Establishment sondern auch die Weltsicht ganzer Bevölkerungen in der westlichen Hemisphäre: Hier ging es nicht mehr allein um Verfehlungen dieser oder jener Regierung; das gesamte politische und ideologische System, dessen Epizentrum die USA waren, geriet ins Wanken. Das Vertrauen in staatliche Institutionen und insbesondere in das Militär war nachhaltig erschüttert.[8] Dadurch konnte die Friedensbewegung in den 1970er-Jahren zu einer starken antisystemischen Kraft werden, die das Führen von Kriegen schwieriger als je zuvor in der Geschichte moderner Staaten machte; der militärisch-industrielle Komplex stand dauerhaft im Zentrum von öffentlicher Kritik und Protestaktionen.

Hinzu kam, dass nun auch noch eine neue Bewegung entstand, die eng mit dem Widerstand gegen das Militär verbunden war: die moderne Ökologiebewegung. 1970 wurde Greenpeace als Widerstandsorganisation gegen Atombombentests in Alaska gegründet, auch Friends of the Earth formierte sich zu dieser Zeit als Anti-Atom-Organisation. Der „Earth Day“ brachte 1970 zwanzig Millionen Amerikaner auf die Straßen, die für den Umweltschutz demonstrierten.

Die Ökologiebewegung knüpfte wiederum an einen tiefgreifenden Umbruch in den Wissenschaften an. 1972 erschien der Bericht an den Club of Rome Die Grenzen des Wachstums. Wissenschaftler des renommierten Massachusetts Institute of Technology zeigten mithilfe von Computermodellen, dass fortgesetztes industrielles Wachstum bis zum Jahr 2100 zu einem globalen Systemzusammenbruch führen muss – eine Prognose, die sich in vielen Überprüfungen und Aktualisierungen ihres Berichtes seither immer wieder bestätigt hat.[9] In der etablierten Physik, Chemie und Biologie erschütterten Ilya Prigogines Arbeiten über nicht-lineare Systeme die mechanistischen Vorstellungen von der Natur.[10] In der Ökonomie entwickelte E. F. Schumacher, ursprünglich ein Mitarbeiter von John Maynard Keynes, das Konzept einer dezentralen, ökologischen „People’s Economy“, das stark von Gandhi beeinflusst war; Schumachers Buch „Small is Beautiful“ wurde zu einem internationalen Bestseller. Etwa zur gleichen Zeit stellten der NASA-Wissenschaftler James Lovelock und die Biologin Lynn Margulis die „Gaia-Hypothese“ vor: den ersten naturwissenschaftlichen Versuch, die Erde als ein lebendes, selbstregulierendes System zu verstehen.

Das neue Denken spiegelte sich wiederum in der Praxis unzähliger Gemeinschaften der „Gegenkultur“, die versuchten, ein Leben jenseits von Naturzerstörung, Konsumismus und Konkurrenz aufzubauen (und dabei teilweise an ältere Traditionen der Romantik und Lebensreformbewegungen anschlossen). Dabei zeichnete sich noch ein weiterer Umbruch ab, dessen Bedeutung man nicht hoch genug einschätzen kann: die pädagogische Revolution. Seit der Frühen Neuzeit hatten sich in Schule und Elternhaus Erziehungsmethoden durchgesetzt, deren ausdrückliches Ziel es war, den Willen des Kindes zu brechen, um es zu einem störungsfrei funktionierenden Teil im Getriebe von Familie, Armee und Wirtschaft zu machen.[11] Reformpädagogische Ansätze, die auf Respekt gegenüber dem Kind beruhten, gab es schon lange, aber erst in den Elternhäusern, Kinderläden und freien Schulen der Post-1968er-Epoche wurden sie zu einer mehrheitsfähigen Bewegung – und stellten damit ein entscheidendes Fundament der Disziplinargesellschaft infrage.

Der große politische Umsturz war 1968 zwar ausgeblieben, aber die gesellschaftlichen Veränderungen waren tiefgreifend. Eine Kritik des gesamten Herrschaftsgebäudes der Moderne und der westlichen Konzeption von „Zivilisation“ stand nun auf der Tagesordnung einer globalen „Gegenkultur“, die immer tiefer in den Mainstream eindrang.

Die „Mäßigung der Demokratie“

1973 wurde auf Betreiben von David Rockefeller die Trilaterale Kommission ins Leben gerufen, die einer Koordination der globalen Systemsteuerung zwischen den USA, Westeuropa und Japan dienen sollte. Zu den Mitgliedern zählten Spitzenpolitiker aller drei Kontinente, CEOs von Konzernen wie Exxon, Toyota, Fiat, Lehman Brothers oder Coca Cola, aber auch Gewerkschaftschefs (etwa der damalige DGB-Vorsitzende Heinz-Oskar Vetter) sowie führende Journalisten, darunter die Herausgeber des Time Magazine, der Financial Times und der Zeit.

Einer der ersten Berichte, die die Kommission in Auftrag gab, trug den Titel Die Krise der Demokratie. Samuel Huntington und seine Mitautoren aus Frankreich und Japan diagnostizieren in dem Bericht einen „Exzess von Demokratie“, der die Systemstabilität gefährde. Huntington blickt wehmütig auf die 1950er-Jahre zurück, als „Präsident Truman noch in der Lage war, das Land mithilfe einer relativ kleinen Anzahl von Wall-Street-Bankern und Anwälten zu regieren“.[12] Mit bemerkenswerter Offenheit stellen die Autoren fest, dass „europäische Demokratien nur teilweise und auf theoretischer Ebene offene Systeme sind. Ihre Steuerung beruht auf einem subtilen Filterprozess von Teilnehmenden und Forderungen.“[13] Huntington fährt fort:

„Eine effektive Steuerung des demokratischen politischen Systems erfordert einen gewissen Grad von Apathie und Nicht-Einbeziehung bestimmter Individuen und Gruppen. (…) Jetzt aber beginnen solche randständigen Gruppen, wie im Fall der Schwarzen, voll am politischen System teilzunehmen; dabei besteht die Gefahr, das System mit politischen Forderungen, die seine Funktionen und seine Autorität untergraben, zu überladen.“[14]

Huntington beklagt darüber hinaus, dass die fortgeschrittenen Industriegesellschaften eine Schicht von „wertorientierten Intellektuellen“ hervorgebracht hätten, die „der Führerschaft schaden, Autoritäten infrage stellen und etablierte Institutionen demaskieren und delegitimieren“.[15] Eine weitere Gefahr drohe von Journalisten, die „immer mehr Einfluss gegenüber den Eigentümern und Herausgebern geltend machen und die traditionelle Normen von ‚Objektivität’ und ‚Neutralität’ im Namen von politisch engagierter Berichterstattung beiseite fegen“.[16] Die neuen Werte, die sich überall in der Gesellschaft verbreiteten, würden es Regierungen immer schwerer machen „den Bürgern Disziplin und Opfer aufzuerlegen“.

Die Analysen dieses Berichtes sind eines der genauesten und eindringlichsten Zeugnisse über die Ängste „liberaler“ politischer Eliten vor echter Demokratie.[17] Die Empfehlungen, die der Bericht am Ende gibt, bleiben dagegen vergleichsweise vage. So ist etwa davon die Rede, „eine Balance zwischen Regierung, Presse und anderen gesellschaftlichen Institutionen herzustellen“ oder „die Bildung wesentlich stärker mit wirtschaftlichen und politischen Zielen in Einklang zu bringen“. Aus der Vagheit dieser Empfehlungen spricht noch die ganze Ratlosigkeit, die das Establishment Mitte der 1970er-Jahre befallen hatte. Die Strategien des Großen Rollbacks waren noch nicht erfunden.

Das Große Rollback

Die politischen und wirtschaftlichen Eliten, die sich zur Steuerung der Großen Maschine berufen fühlten, hatten in den 1970er-Jahren an mindestens zwei Fronten zu kämpfen. Auf der einen Seite gab es die Herausforderung durch die Gegenkultur und die antisystemischen Bewegungen, auf der anderen Seite zeichnete sich eine globale ökonomische Krise ab. Nach drei Jahrzehnten des Booms und der Expansion begann um das Jahr 1973 eine Phase der Stagnation und Kontraktion, die von einem sprunghaften Anstieg der Ölpreise, einer schweren Rezession und dem Zusammenbruch des Weltwährungssystems („Bretton-Woods-System“) einschließlich der Goldparität des US-Dollars eingeläutet wurde.

Die Antwort auf diese Konstellation war das, was man später die „neoliberale Revolution“ genannt hat, obwohl es eigentlich eher so etwas wie eine konservative Reaktion war. Ihr Ziel bestand darin, die stotternde Geldvermehrungsmaschine wieder in Gang zu bringen, die Gegenkultur zurückzudrängen und die Macht der dominierenden ökonomischen Klassen, die in den 1960ern deutlich geschwächt worden war, wiederherzustellen.[18] Diese „Revolution“ hatte mehrere Säulen: eine wirtschaftspolitische, eine ideologisch-propagandistische und – was oft übersehen wird – eine militärische.

Der Erfolg des neoliberalen Programms hat seither eine Verwüstungsspur auf dem Planeten hinterlassen und sozial, ökonomisch und ökologisch in Chaos geführt. Wie bereits im späten 19. Jahrhundert und in der Weimarer Zeit nutzen rechte Bewegungen dieses Chaos, um von den tatsächlichen Ursachen abzulenken und die Schuld auf Sündenböcke zu projizieren. Zum Beispiel auf die Menschen, die vor den Folgen unserer „kannibalischen Weltordnung“ (Jean Ziegler) flüchten. Einmal mehr bietet sich der Faschismus an, um die kapitalistischen Eliten vor dem Zorn der Bevölkerungen zu retten, indem er soziale und ökologische Konflikte in einen Kampf von Völkern und Kulturen umdeutet.. Ob diese Strategie aufgeht, ist allerdings offen. In der systemischen Krise, in der wir uns befinden, steuern wir auf tiefe historische Brüche zu, die auch emanzipatorische Bewegungen nutzen können, um das Schiff in eine andere Richtung zu steuern. Die Epoche von 1968 ist voll von Inspirationen und historischen Lehren dafür.

 

Dieser Artikel basiert auf dem 10. Kapitel des Buches Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation (10. Auflage, Wien 2018).

 

Fußnoten:

[1] Zu den vier Tyranneien vgl.: Fabian Scheidler: Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivlisation, 8. Auflage, Wien 2017, S. 19-31

[2] ebd., S. 181-183

[3] Time Magazine, 16.2.1970

[4] Brian Glick: War at Home: Covert Action Against U.S. Activists and What We Can Do About It, New York 1989

[5] Vgl.: Dario Azzellini: Bomben für das System – Die „Strategie der Spannung, in: Italien. Genua. Geschichte, Perspektiven, Berlin 2002, sowie den ZDF-Dokumentarfilm Stay behind: Die Schattenkrieger der NATO von Ulrich Stoll (Deutschland 2014)

[6] Gunther Latsch: Die dunkle Seite des Westens, in: Der Spiegel 11.4.2005

[7] Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. C 324 vom 24. Dezember 1990, S. 202

[8] Sprachen laut Umfragen 1966 noch 41 Prozent der US-Bevölkerung ihrer Regierung „großes Vertrauen“ aus, waren es 1973 nur noch 19 Prozent. Das Vertrauen in Großunternehmen fiel im selben Zeitraum von 55 auf 29 Prozent, das Vertrauen in die Armee von 62 auf zwischenzeitlich 27 Prozent. Dagegen stieg das Vertrauen in die Medien von 25 auf 41 Prozent. Fast zwei Drittel der Jugendlichen waren der Meinung, dass Parteien grundlegend reformiert oder gar abgeschafft werden müssen. Michel J. Crozier, Samuel Huntington, Joji Watanuki: The Crisis of Democracy. Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission, New York 1975, S. 83

[9] Donella Meadows, Dennis Meadows, Jørgen Randers: Grenzen des Wachstums: Das 30-Jahre-Update, Stuttgart 2006; Ugo Bardi: The Limits to Growth Revisited, New York 2011

[10] Die deterministischen und mechanistischen Vorstellungen von der Natur waren bereits seit den 1920er-Jahren durch die Quantenphysik ins Wanken geraten; erst in den 1970er-Jahren aber fanden solche Ideen auch in weiteren Kreisen Interesse.

[11] Zur „Schwarzen Pädagogik“ vgl. Katharina Rutschky: Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Berlin 1977, sowie Alice Miller: Am Anfang war Erziehung, Frankfurt/M. 1983

[12] Michel J. Crozier, Samuel Huntington, Joji Watanuki: The Crisis of Democracy. Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission, New York 1975, S. 98 (Übersetzung vom Autor)

[13] ebd., S. 12

[14] ebd., S. 114

[15] ebd., S. 7

[16] ebd., S. 181

[17] Huntington stand der Demokratischen Partei nahe und war in der Regierung von Jimmy Carter (1977–81) Sicherheitsberater. Ein erheblicher Teil der Carter-Administration rekrutierte sich aus Mitgliedern der Trilateralen Kommission. Die Arbeit der Kommission reflektiert also keineswegs rechte Extrempositionen sondern den „liberalen“ Mainstream.

[18] In den 1920er-Jahren vereinnahmten die reichsten 0,1 Prozent der Bevölkerung in den USA und Europa etwa acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts, Mitte der 1970er-Jahre waren es nur noch zwei Prozent. Auch der Anteil am Volksvermögen war bei den Superreichen von 50 auf fast 20 Prozent gefallen. Der neoliberalen Reaktion gelang es, bis Ende der 1980er-Jahre die Vorkriegsverhältnisse wiederherzustellen. David Harvey: A Brief History of Neoliberalism, Oxford 2005, S. 15 ff.