Ukraine: Das Spiel mit dem Feuer

FabianFabians Blog

Russland hat zweifellos einen unrechtmäßigen Schritt mit der Besetzung der Krim getan, darüber muss man nicht lange streiten. Aber es genügt nicht, mit dem Finger auf Russland zu zeigen, um die Eskalation in der Ukraine zu verstehen; auch die Rolle des Westens muss kritisch beleuchtet werden. Denn EU und USA verfolgen dort ebenso rücksichtslos geopolitische, militärische und wirtschaftliche Interessen wie Russland, wenn auch mit etwas anderen Mitteln. Und diese Interessen sind keineswegs – ebenso wenig wie die russischen – deckungsgleich mit den Interessen der ukrainischen Bevölkerung.

Die jetzige Krise fing damit an, dass die Ukraine das Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU ablehnte. Dieses Abkommen war nicht nur für die (damals) pro-russischen Machteliten sehr unvorteilhaft, sondern für die große Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung. Denn die Ukraine ist unter den Bedingungen des Freihandels nicht mit der EU konkurrenzfähig. Was von ihrer Industrie noch übrig ist, würde wohl kollabieren, der Markt mit EU-Produkten überschwemmt. Auch ukrainische Agrarprodukte könnten mit der hochsubventionierten Agrarindustrie der EU nicht mithalten. Dieses Abkommen war also nicht, wie immer wieder unterstellt wird, ein selbstloses Angebot der EU, um den Ukrainern zu helfen, in den Schoß stabiler Demokratien einzukehren, sondern vor allem ein Instrument zur Durchsetzung europäischer Kapitalinteressen.

Darüber hinaus sah das Abkommen – und hier kommt Russland ins Spiel – eine verstärkte Militärkooperation mit der EU vor. Man muss nicht paranoid sein, um den Verdacht zu hegen, dass dies als Schritt gedacht war, um die Nato letztlich bis an die russische Grenze auszudehnen. Erinnern wir uns: 1990 hatte Gorbatschow grünes Licht für die Wiedervereinigung Deutschlands gegeben – allerdings unter der Bedingung, dass die Nato nicht über die deutschen Grenzen nach Osten ausgedehnt wird. Doch mit dem Nato-Beitritt von Polen, Tschechien und Ungarn 1999 wurde diese Abmachung Makulatur; 2004 folgten die baltischen Staaten. Seither sind die Russen – aus ihrer Perspektive durchaus zurecht – besorgt, dass die Nato auch an ihre südwestlichen Grenzen vorrückt.¹ Wer Frieden und Stabilität für die Ukraine will, sollte daher die russische Seite nicht an diesem empfindlichen Punkt provozieren – doch genau das tat die EU. Russlands militärische Intervention ist ohne diesen Hintergrund nicht verständlich.

Auch die USA sind an der gegenwärtigen Eskalation nicht unschuldig. Seit mehr als zwanzig Jahren fördern sie eine ganze Reihe von Organisationen, die in die politische Landschaft der Ukraine eingreifen, um eine Öffnung der Märkte und eine stärkere Westbindung zu erreichen. Die Strategie dabei ist altbewährt: Man versucht, Parteien und soziale Bewegungen, die den eigenen Interessen dienen, entweder zu gründen oder bestehende Bewegungen zu beeinflussen. Die ursprünglich serbische Organisation Otpor etwa, eine vermeintliche Graswurzelbewegung, die im Vorfeld der „Orangenen Revolution“ 2004 eine wichtige Rolle spielte, wurde fast ausschließlich aus US-Quellen wie dem Freedom House, dem Open Society Institute von George Soros, den Parteistiftungen der Demokraten und Republikaner sowie dem National Endowment for Democracy (NED) finanziert.² Das NED selbst wiederum – das direkt dem US-Kongress untersteht – hat in den letzten Jahren über 100 Millionen US$ in etwa 65 Projekte in der Ukraine investiert, deren teils offenes, teils verdecktes Ziel ein „Regime-Change“ war.³ Der Gründer des NED, Allen Weinstein, sprach sich einst sehr offenherzig über den Charakter der Organisation aus: „Vieles von dem, was wir heute tun, hat die CIA vor 25 Jahren verdeckt getan.“4 Victoria Nuland, US-Chefdiplomatin für die EU und Eurasien, brüstete sich im Dezember sogar damit, dass die USA seit 1991 fünf Milliarden US$ in politische Hintergrundarbeit in der Ukraine investiert haben.5 Wladimir Klitschko und seine Partei Udar („Schlag“) werden seit Jahren von den beiden großen US-Parteistiftungen IRI und NDI gefördert – und auch von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung.6

Das am 6.2. geleakte Telefonat zwischen Nuland und Geoffrey Pyatt, dem US-Botschafter in Kiew, wirft ein genaueres Licht auf die Agenda der USA. Dieses Telefonat hat vor allem durch Nulands Ausspruch „Fuck the EU!“ eine gewisse Berühmtheit erlangt; weit weniger bekannt aber ist der viel wichtigere Teil der Konversation, in dem die beiden Diplomaten über die möglichen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten nach einem Sturz von Janukowitsch sprechen:

VICTORIA NULAND: Ich denke, Klitsch sollte nicht in die Regierung gehen. Ich denke, es ist nicht nötig, es ist keine gute Idee.

GEOFFREY PYATT: Ja, ich meine, man sollte ihn lieber draußen lassen und seine politischen Hausaufgaben machen lassen. Ich denke, was den voranschreitenden Prozess angeht, wollen wir die moderaten Demokraten zusammen halten. Das Problem werden Tjagnibok und seine Leute sein. [Oleg Tjagnibok ist Vorsitzender der rechtsextremen, antisemitischen Swoboda-Partei. Anm. d. Red. ] (…)

VICTORIA NULAND: Ich denke, Jats ist der Mann, der die wirtschaftliche Erfahrung hat, die Regierungserfahrung. Er ist der Mann. Was er braucht, sind Klitsch und Tjagnibok draußen. Er sollte mit ihnen vier mal die Woche sprechen.7

„Jats“ (gemeint ist Arsenij Jatsenuk) und „Klitsch“: Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Victoria Nuland die zu diesem Zeitpunkt wichtigsten Oppositionspolitiker im wesentlichen als Marionetten betrachtet, die man am grünen Tisch in Washington herumschieben kann. Das Telefonat sagt natürlich nichts darüber, wie stark der Einfluss der USA auf die realen Bewegungen und das ukrainische Parlament tatsächlich war und ist. Immerhin aber wurde Nulands Wunsch, dass „Jats“ Ministerpräsident der Ukraine werden soll, am 27.2.2014 Wirklichkeit.

Nun könnte man sagen: Macht doch nichts, wenn EU und USA hinter den Kulissen Figuren verschieben, Hauptsache es kommt eine bessere Regierung als die von Janukowitsch heraus. Doch genau hier liegt das Problem: Der Regime-Change hat den Rechtsextremen erheblichen Auftrieb verschafft, sowohl als Teil der neuen Regierung als auch als außerparlamentarische Kraft. Dazu ist wiederum das Telefonat zwischen Nuland und Pyatt aufschlussreich. Während Botschafter Pyatt die Swoboda-Partei von Oleg Tjagnibok offenbar als Problem einstuft, betont Nuland – die wesentlich näher an den Entscheidungsstellen in Washington ist –, dass Jatsenuk nicht nur Klitschko sondern auch Tjagnibok „draußen“ brauchen würde. Mit „draußen“ ist wohl die Straße gemeint, wo die Rechtsextremen von Swoboda und dem „Rechten Sektor“ tatsächlich eine zentrale Rolle vor allem bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der ukrainischen Polizei spielten. Seit dem Sturz von Janukowitsch ziehen sie nun durch das Land und verwüsten die Büros der kommunistischen Partei8 und jagen Linke.910 Einige Rabbis hatten bereits am 22.2. Juden empfohlen, Kiew zu verlassen, aus Furcht vor antisemitischen Übergriffen.11 Eine der ersten Initiativen des neuen ukrainischen Parlaments war die Aufhebung eines Gesetzes, dass die Leugnung der Verbrechen des Faschismus unter Strafe stellt – ein lang gehegter Wunsch der extremen Rechten.12 Auch in hohe Staatsämter steigen nun Rechtsradikale auf: Der stellvertretende Vorsitzende von Swoboda, Oleksandr Sytsch, wurde am 27.2. zum stellvertretenden Ministerpräsidenten. Hofiert werden Rechtsextreme nicht nur von den USA sondern auch von der EU und Deutschland. Im Dezember 2013 bezeichnet der EU-Botschafter in der Ukraine, Jan Tombinski, Swoboda als „gleichwertigen Partner für Gespräche mit der EU.“13 Frank-Walter Steinmeier empfing Tjagnibok zusammen mit Klitschko am 21.2. persönlich.14

Mit ihren teils offensichtlichen, teils verdeckten Versuchen, die Ukraine von innen aufzubrechen und westlichen Interessen gefügig zu machen, spielen die USA und die EU ein sehr gefährliches Spiel. Nicht nur riskieren sie einen Bürgerkrieg in der Ukraine und ein Auseinanderbrechen des Landes, nicht nur spielen sie den Faschisten dort in die Hände; sie setzen darüberhinaus den Frieden in Europa aufs Spiel.

Diese Risiken werden noch durch die weitere wirtschaftliche Destabilisierung verschärft, die nun mit dem IWF vor der Tür steht, der seine Kredite an die üblichen Austeritätsbedingungen knüpft. Bekanntlich hat der IWF mit seinem Mantra aus Deregulierung und Privatisierung bereits einige Dutzend Länder in Lateinamerika, Asien und Afrika in den Ruin und in Spiralen der Gewalt getrieben – Mali ist dafür ein Musterbeispiel15; auch Griechenland ist unter einem solchen Strukturanpassungsprogramm wirtschaftlich kollabiert. Nun ist die Ukraine der nächste Kandidat für diese tödliche Kur.16 Auch die 11 Milliarden Euro, die die EU als Soforthilfe anbietet, erweisen sich als vergifetete Gabe, denn sie sind daran gekoppelt, dass die Ukraine die IWF-Bedingungen akzeptiert. „Ich erwarte, dass die Ukraine eine Vereinbarung mit dem IWF unterzeichnet“, sagte Komissionschef Barroso auf die Frage nach den Vorbedingungen für die Finanzhilfen. „Es ist wichtig, dass die Regierung sich zu Reformen verpflichtet.“17 Die extreme Rechte, die mithilfe der EU nun Teil der Regierung ist, kann sich schon freuen: Wie in Griechenland wird ihr Rezept, die Schuld für alle Übel auf Juden, Ausländer und Homosexuelle zu projizieren, unter den Bedingungen vertiefter sozialer Spaltung wohl immer größere Kreise ziehen.

5.3.2014

Update 5.3.2014, 15 Uhr MEZ:

Der britische Fernsehsender Chanel 4 berichtete unter Berufung auf Russia Today von einem geleakten Telefongespräch zwischen der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton und dem estnischen Außenminister Urmas Paet, in dem es darum geht, wer für die Morde der Scharfschützen an etwa 80 Polizisten und Demonstranten auf dem Kiewer Maidan am 20.2.2014 verantwortlich war.18 In dem auf Youtube veröffentlichten Gespräch sagt Paet: „Es gibt immer stärkere Erkenntnisse, dass hinter den Scharfschützen nicht Janukowitsch stand, sondern die Neue Koalation.“ Paet äußert außerdem die Sorge, dass die neue Regierung die Vorfälle offenbar nicht wirklich aufklären möchte. Das estnische Außenministerium hat inzwischen die Echtheit des Telefonats bestätigt.19 Sollten sich die Erkenntnisse, von denen Paet spricht, bewahrheiten, dann müsste die Geschichte der ukrainischen „Revolution“ neu geschrieben werden.

 

Dieser Beitrag erschien erstmals am 5.3.2014 auf www.kontext-tv.de.

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1 Zur Osterweiterung der Nato vgl. auch Albrecht Müllers Beitrag auf den Nachdenkseiten vom 4.3.14: http://www.nachdenkseiten.de/?p=20943

2 Vgl. dazu den Artikel aus dem Guardian vom 26.11.2004: http://www.theguardian.com/world/2004/nov/26/ukraine.usa

3 Vgl. das Interview mit dem ehemaligen CIA-Offizier Ray McGovern auf democracynow: http://www.democracynow.org/2014/3/3/who_is_provoking_the_unrest_in

4 Washington Post, 21.9.1991

5 Die Rede kann man auf der Website des State Departments nachlesen: http://www.state.gov/p/eur/rls/rm/2013/dec/218804.htm

6 Vgl. die entsprechenden Berichte des Spiegels vom 8.12.2013 und der Deutschen Wirtschafts-Nachrichten vom 4.2.2014

7 http://www.democracynow.org/2014/3/3/who_is_provoking_the_unrest_in

8 http://www.hintergrund.de/201402273006/politik/welt/todeslisten-und-molotow-cocktails.html

9 Vgl. den Bericht auf Indymedia: http://de.indymedia.org/2014/03/352818.shtml

10 http://www.neues-deutschland.de/artikel/925947.terror-im-namen-der-revolution.html

11 http://www.haaretz.com/jewish-world/jewish-world-news/1.575732

12 http://www.heise.de/tp/artikel/41/41112/1.html

13 Focus, 21.12.2013

14 Deutsche Welle, 21.2.2014: http://www.dw.de/zwischen-hoffen-und-bangen-in-kiew/a-17448315

15 Zum Fall Mali vgl. das Interview mit Aminata Traoré auf Kontext TV: http://www.kontext-tv.de/node/338

16 Vgl. das Interview mit dem Osteuropa-Experten Ewald Böhlke von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im Deutschlandradio: http://www.deutschlandradiokultur.de/umbruch-das-modell-griechenland-in-der-ukraine.1008.de.html?dram:article_id=278518

17 Die Welt, 5.3.2014

18 http://www.channel4.com/news/ukraine-catherine-ashton-phone-shoot-maidan-bugged-leaked

19 Bestätigung der Echtheit des Telefonats auf der Seite des estnischen Außenministeriums: http://www.vm.ee/?q=en/node/19353